Als ich im Frühjahr 1980 jenen Flügel eines großen Museums betrat,in dem die Schätze der Antike untergebracht waren,erspähte ich eine kretische Göttin,deren Bild ich schon in mindestens einem Dutzend Büchern gesehen hatte.Ich eilte zu ihr,zu einer der berühmtesten Darstellungen weiblicher Gottheiten,und fand die Statuette ohne Namensbezeichnung.Auf dem Schild zu ihren Füßen stand lediglich "Religiöse Figur".
Später,in einem anderen großen Museum,durchstreifte ich die China-Abteilung auf der Suche nach Skulpturen der herzensguten Guan Yin.Und da war sie auch wirklich:Ein wunderhübsches Mädchen,beinahe in Lebensgröße,ihr liebliches Gesicht umrahmt von langen Locken,ihre Gewänder kostbar und geschmackvoll gestaltet. "Gottheit der Barmherzigkeit" lautete die dürftige Information.
Warum wurde in beiden Fällen nicht das Wort "Göttin" verwendet?Und warum nannte man ihre Namen nicht?
Diese Unart ist nicht nur auf die Beschrifter von Museumsexponaten beschränkt.Nein,diese "Verschwörung" gegen die korrekte Benennung von Göttinnen,um ihr Geschlecht zu verbergen oder um sie als unwichtige Nebengottheiten abzutun,ist in der gesamten Fachliteratur zu spüren.
Eine raffinierte Form dieser Namensvermeidung besteht darin,die Göttin,Halbgöttin oder matriarchialische Heldin als "Tochter des Mondgottes" oder "Potiphars Weib" zu deklarieren.Als ob die Verwandtschaft mit einem Gott oder die Ehe mit einem Hofbeamten des Pharao das betreffende weibliche Wesen ausreichend beschreiben würde!Es wird auf diese Weise nicht nur der Name verschwiegen,sondern auch bisweilen auch der Leser über die tatsächliche Rolle der Frau in der fraglichen Beziehung getäuscht: Omphale muß sich damit begnügen,schlichtweg als "Gattin des Herakles" zu fungieren,während sie doch eine Amazonenkönigin war,die sich den übermenschlich starken Helden Herakles als Liebessklaven kaufte.
Daphne muß es sich gefallen lassen,"Geliebte des Apollon" zu sein,statt das Opfer der versuchten Vergewaltigung durch ihn.
Und Parvati wird als "Gemahlin Shivas" gesehen und nicht als die Macht,die ihn beseelt...
Als ich begann,unser Wissen über die Göttinnen neu zu formulieren,stellte ich sehr bald fest,daß meine Beschäftigung mit den konventionellen Darstellungen meine Fähigkeit,unvoreingenommen zu erzählen,unwillkührlich beeinträchtigte.Ich bemerkte,daß ich automatisch in die übliche Diktion verfiel,doch auf diese Weise der spirituellen Bedeutung der Überlieferungen nicht gerecht zu werden vermochte.
Ich löste das Problem,indem ich jede Göttin so beschrieb,als ob sie eine Gottheit wäre,die ich aufrichtig verehre.Ich machte sie zum Mittelpunkt ihrer ganz persönlichen Geschichte und akzeptierte z.b Kali,die tanzende Fürstin des Todes,aus ihrer Sicht.Dadurch bekam sie eine ganz andere Qualität,als einfach nur grotesk oder furchterregend zu wirken.Sie wurde zu einer Vermittlerin spirituellen Verständnisses,als die sie für Millionen von Hindus bis heute gilt.
Insofern unterscheidet sich meine Version manche Göttinnen-Sage auffallend von der Art,in der sie bisher bekannt war.Hier ist oft von Vergewaltigung und Mord die Rede,wo männliche Interpreten nur von Liebe und Tod sprechen.Die Göttinnen entfalten sich und wachsen,statt ein für allemal festgelegte Wesen zu sein,und sie sind ebensowenig als bloße "Variationen" voneinander zusammengefaßt wie der heilige Geist eine "Variante" des Gottessohnes ist. |
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